Bedeutungsvolle Stettiner und ihre Mietshäuser
Eine neue touristische Route betrifft dreizehn Mietshäuser in der Stadtmitte und ihre ungewöhnlichen Einwohner aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der erste Spaziergang war außergewöhnlich und voller überraschenden Ereignissen, die die Leidenschaften der ehemaligen Einwohner wiederspiegelten. Es haben sich über 100 Bedeutende Stettiner und ihre Wohnstätten für die Geschichte der Stadt interessierten Teilnehmer gesammelt.
Ein zweiseitiger Stadtplan (auf Polnisch, Deutsch und Englisch) mit biografischen Noten der 13 bekannten Stettiner aus der Vor- und Nachkriegszeit, mit architektonischen Beschreibungen der Mietshäuser in der Stadtmitte, wo die Personen zur Welt kamen, wohnten oder arbeiteten, mit der darauf aufgezeichneten Route und markierten Objekten kann von der vorläufigen Homepage www.kamieniceszczecina.pl heruntergeladen werden.
- Julo Levin
Erbaut: 1888–1889. Entwurf: Paul Seyring.
Julo Levin (1901 Stettin – 1943 Auschwitz) – expressionistischer Maler jüdischer Abstimmung, Absolvent der Akademien für bildende Künste in München und Düsseldorf. Levin arbeitete in Öl, Aquarell und Gouache sowie als Grafiker. Er hat u. a. die Ansichten seiner Heimatstadt Stettin gemalt. Sein bekanntestes Werk ist Hiob. Es entstand unter dem Eindruck seiner Gefängniserlebnisse und der Schilderungen über die Folterung seines Freundes. Im Jahr 1933 wurde er als „entarteter“ Künstler diffamiert und erhielt Berufsverbot. 1943 wurde er ins Konzentrationslager nach Auschwitz verschleppt.
- Heinrich George
Erbaut: 1886 r. Architekt unbekannt.
Heinrich George (1893 Stettin – 1946 Oranienburg), eigentlich hieß der legendäre Schauspieler Georg August Friedrich Wilhelm Schulz – sein Fach war das Drama. Er debütierte 1911 in dem kleinen Theater Bürgerliche Ressource in Stettin. Sein erstes richtiges Engagement erhielt er ein Jahr später in Kolberg, in der Operette Die keusche Susanne von Jean Gilbert. Er hat in Stücken vieler namhafter Autoren wie Shakespeare, Schiller und Goethe gespielt.
1921 begann seine Filmkarriere, die ihm sehr große Popularität in ganz Deutschland einbrachte. Mit seinem schauspielerischen Schaffen hatte George teil am Erfolg großer Klassiker der Filmgeschichte. Ausschnitte aus dem Stummfilm Metropolis (Regie: Fritz Lang, 1927) dienten Rock- und Popstars der internationalen Musikszene, z. B. Queen oder Madonna, für Videoclips oder fanden Eingang in die erste Verfilmung des Romans Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin (Regie: Phil Jutzi, 1931). Gemeinsam mit anderen gebürtigen Stettinern wie Dita Parlo und Heinrich von Twardowski spielte George in Hollywood-Verfilmungen, z. B. in Menschen hinter den Gittern. Nach der Machtergreifung Hitlers erhielt er zunächst Berufsverbot, später spielte er in Propagandafilmen. Seit 1938 – in diesem Jahr hatte er den Direktorenposten des Schiller-Theaters in Berlin angetreten – half er jüdischen Schauspielern durch Engagements in seinem Theater. George hat in 81 Filmen gespielt. Sein letzter Film war Kolberg (Regie: Veit Harlan, Wolfgang Liebeneiner, 1945), ein Propagandafilm mit moderner Regie, der mit einem Budget von geschätzt 10 Mio. Reichsmark realisiert wurde. 1945 wurde George von den Sowjets verhaftet. Er starb im Konzentrationslager Sachsenhausen an Entkräftung.
- Leon Jessel
Erbaut: 1885–1886. Entwurf: Wilhelm Trost.
Leon Jessel (1871 Stettin – 1942 Berlin) – jüdischer Kapellmeister und Komponist von Operetten, Klavierstücken, Kammermusik, Liedern, Walzern, Mazurken, Märschen und Chorwerken. Jessels Werke erfreuten sich großer Beliebtheit, sie wurden in ganz Europa gespielt. Er hat Die Parade der Zinnsoldaten, den weltbekannten, heiteren Marsch, komponiert. Teile daraus wurden im Zeichentrickfilm Betty Boop Parade of Wooden Soldiers aus dem Jahr 1933 aufgegriffen. Seit 1933 bis zum heutigen Tag wird der Marsch in der berühmten Choreografie der New Yorker Tanzband Radio City Rockettes aufgeführt. Die Operette Das Schwarzwaldmädel war ein durchschlagender Erfolg. Sie wurde mehrfach verfilmt. Die Arie „Malwine, ach Malwine, du bist wie eine Biene“ erlangte durch den Sänger Stanisław Grzesiuk und später durch die Band Szwagierkolaska Bekanntheit. („Rum Helka, rum Helka, die bist dick wie der Balken“). 1937 wurden die Werke Jessels verboten. Im Dezember 1941 ist Jessel verhaftet worden. Man klagte ihn wegen Hetzerei gegen das Dritte Reich an. Er wurde von der Gestapo in Berlin gefoltert. Jessel ist an den Folgen der Folterungen gestorben. In seiner Sterbeminute soll er die Worte „Gestapo, Gestapo, Gestapo…“ gerufen haben.
- Antoni Kaczorowski
Erbaut: 1909–1910. Entwurf: Paul Fildebrandt, Friedrich Liebergesell.
Antoni Kaczorowski (1893 Lemberg – 1982 Stettin) – Schauspieler, Sänger, Regisseur, Theaterdirektor. In Soloaufführungen auf der Bühne war er unübertroffen. Er leitete auch eigene Revue - und Operettengruppen. Als Soldat der Anders-Armee legte er den gesamten Kampfweg vom Iran über Syrien, Palästina, Ägypten bis nach Italien zurück und nahm an der Monte-Casino-Schlacht in Italien teil. 1958 hat sich Kaczorowski in Stettin niedergelassen. Dort führte er Operetten auf und schuf zahlreiche unvergessliche Bühneninszenierungen. Auch mit dem polnischen Rundfunk arbeitete er zusammen: Er bot Sketche und Schlager, die zu Hits der Zwischenkriegszeit wurden. Über Kaczorowski heißt es: „Er ritt so viel er konnte, auf der Bühne und im Leben.“
- Janina Szczerska
Erbaut: 1900 r. Architekt unbekannt.
Janina Szczerska (1897 Stryj – 1981 Stettin) – Lehrerin. Szczerska war die erste Direktorin des 1. Allgemeinbildenden Lyzeums in Stettin. Sie leitete die Schule fast 13 Jahre (mit einer Unterbrechung von 1951 bis 1959). Im Krieg wurde sie zwei Mal festgenommen und wegen Mitgliedschaft in der Landesarmee zum Tod verurteilt. Außerdem wurde sie den verbrecherischen medizinischen Experimenten im onzentrationslager Ravensbrück unterzogen – wie durch ein Wunder ist sie dem Tod entkommen. Geprägt von den Bildungsprinzipien der Vorkriegszeit war sie gegen die gemeinsame Ausbildung von Jungen und Mädchen. Das von ihr geleitete Lyzeum war seit 1946 eine reine Mädchenschule.
Szczerska zufolge war es „Das Ziel des Klassenlehrers in Pommern, den neuen Menschen, den neuen Pommer zu erziehen.“ Sie wurde von vielen hoch geschätzt und mit Zuneigung bedacht, von anderen hingegen wegen zu großer Loyalität gegenüber der Macht angeprangert. Ihre Möbel aus der Wohnung in der Piastów-Straße können im Stettiner Stadtmuseum besichtigt werden. Zum Andenken an Janina Szczerska wurde dort ein Saal eingerichtet. 1998 wurde der Platz in der Nähe des Lyzeums nach ihr benannt.
- Janina Smoleńska
Erbaut: 1904–1906. Entwurf: Friedrich Liebergesell.
Janina Smoleńska (1926 Tarkowszczyzna – 2010 Stettin) – Soldatin der Landesarmee, Sanitäterin der Partisanenabteilung im Wilnaer Gebiet. Smoleńska diente unter dem Pseudonym „Jachna“ in der legendären Einheit des polnischen Untergrundstaates. Diese Abteilung wurde von Antoni Burzyński, Pseudonym „Kmicic“, Zygmunt Szendzielarz, Pseudonym „Łupaszka“, und Longin Wojciechowski, Pseudonym „Ronin“, angeführt.Nach dem Krieg, im Juni 1946, schloss sie sich der antikommunistischen Verschwörung und der Schwadron vom im Ermland und später in der Tucheler Heide aktiven Leon Smoleński, Pseudonym „Zeus“, an. Im Januar 1947 wurde sie festgenommen und zwei Monate später zu zweifacher Todesstrafe und zum dauerhaften Entzug der Bürger- und Ehrenrechte verurteilt. Das Urteil wurde durch Amnestie zunächst in 15 Jahre Haft verwandelt, später auf zehn Jahre herabgemildert. Schließlich wurden ihr die letzten Monate erlassen. Seit 1957 arbeitete Janina Smoleńska in Stettiner Grund-, Ober- und Hochschulen. 1996 wurde sie Patin der 12. Mechanisierten Brigade Józef Hallers.
- Wilhelm Meyer-Schwartau
Erbaut: 1889–1890. Entwurf: Wilhelm Trost.
Wilhelm Meyer-Schwartau (1854 Schwartau – 1935 Stettin), eigentlich Wilhelm Friedrich Adolf Meyer – Architekt und Stadtplaner. In Meyer-Schwartaus Zeit als Stadtbaurat (1891–1921) hat sich das Stadtbild Stettins wesentlich verändert. Meyer-Schwartau entwarf die Haken-Terrasse mit dem Städtischen Museum (heute: Wały Chrobrego und Nationalmuseum), den Hauptfriedhof, das Verwaltungsgebäude (Rektorat der Pommerschen Medizinischen Universität), den Bau des Stadtgymnasiums (das 1. Allgemeinbildende Lyzeum) und viele andere repräsentative Gebäude der Stadt. Meyer-Schwartau nutzte dabei historisierende Elemente, zugleich bediente er sich bei den neusten Errungenschaften der Ingenieurskunst. Außerdem war er Entomologe und hat den ersten Verein zur Förderung von Fahrradwegen gegründet.
- Helena Majdaniec
Erbaut: 1896–1897. Entwurf: Eduard Carl.
Helena Majdaniec (1941 Mylsk – 2002 Stettin) – Twistkönigin, bedeutendste Stettiner Sängerin. Helena Majdaniec debütierte 1958 im kleinen Studententheater „Zwerg“. Vier Jahre später hat sie gemeinsam mit Grażyna Rudecka den Aufstieg in die Goldene Zehn, dem ersten Festival für junge Talente in Stettin, geschafft. Dort führte sie das Stück Tanzende Eurydiken auf, das im Liedwettbewerb ausgezeichnet worden ist.
Später hat Anna German es weiter bekannt gemacht. Sie arbeitete mit den Bands Czarno-Czarni und Niebiesko-Czarni zusammen. Zu Schlagern wie Die Verliebten sind unter uns oder Morgen wird ein guter Tag sein wurde in ganz Polen getanzt. 1968 führte ihr Weg sie nach Paris. Dort hielt man sie für einen Star der russischen Kabaretts. Seit dem Beginn der 1990er Jahre kehrte sie immer wieder nach Stettin zurück. Das Stettiner Sommertheater trägt ihren Namen.
- Emil Stoewer
Erbaut um 1891. Architekt unbekannt.Im Erdgeschoss wohnte in den Jahren 1907–1917 Emil Stoewer. Emil Stoewer (1873 Stettin – 1942 Berlin) – Pionier der Motorisierung. Gemeinsam mit seinem Bruder, Bernhard leitete Emil Stoewer die Fabrik Stoewer-Werke AG.
1897 bauten die Brüder ihr erstes Fahrzeug, ein dreirädriges, mit Verbrennungsmotor betriebenes Fahrrad. Die Fabrik hat PKWs (Cabriolets, Limousinen, Sportwagen), Liefer- und Kraftfahrzeuge sowie Busse – auch Doppeldecker für Londoner Verkehrsbetriebe hergestellt.
Der Großteil der Produktion war für den Export bestimmt. 1930 entwarf Stoewer das Modell V5, das erste deutsche Serienauto mit Vorderradantrieb. Das Unternehmen entwickelte interessante Marketingstrategien: eine Rallye nach Paris mit selbstkonstruiertem Wagen, Ausstellungen, Probefahrten. Stettin
- Heliodor Sztark
Erbaut 1893–1895. Entwurf: Paul SeyringIm ersten Stock wohnte in den Jahren 1931-1934 Heliodor Sztark.
Heliodor Sztark (1886 Konin – 1969 Weslaco) – Bauingenieur, Diplomat, polnischer Konsul in Köln, Leningrad, Stettin (1931–1969) und Pittsburgh.Sztark sprach Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch. Ihm oblag die Betreuung der Auslandspolen, der sog. Polonia, außerdem kümmerte er sich um polnische Saisonarbeiter und Juden. Während des Zweiten Weltkrieges hielt er über 100 Vorträge: im Rundfunk, an Universitäten, bei Versammlungen amerikanischer Jugendlicher und für die polnische Diaspora. Dabei warb er immer wieder für polnische Angelegenheiten.
Nachdem er seinen Konsulposten in Pittsburgh verloren hatte, siedelte er sich in Weslaco in Texas an. Dort baute er Südfrüchte an, arbeitete als Lektor für Russisch im Pan American College in Edinburgh sowie im Luftschutzstützpunkt in Harlingen. Gemeinsam mit Michał Wiłkomirski sorgte er für die Popularisierung der Musik von Chopin, Karłowicz und Szymanowski in den Vereinigten Staaten. Er wurde auf einem Friedhof im Rio-Grande-Tal begraben. Seinen Sarg zierte eine weiß-rote Fahne.
- Kurt Tucholsky
Erbaut 1894–1895. Architekt unbekannt.Im zweiten Stock wohnte in den Jahren 1897–1899 Kurt Tucholsky.
Kurt Tucholsky (1890 Berlin – 1935 Göteborg) – Schriftsteller, Theater- und Gesellschaftskritiker, Meister der politischen Satire, radikaler Pazifist und Demokrat, Gegner des Nationalsozialismus.Tucholsky gab gemeinsam mit dem Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzki die Wochenzeitschrift Die Weltbühne heraus und war Autor der Romane Rheinsberg und Schloß Gripsholm. 1929 ließ er sich in Schweden nieder, wo er sechs Jahre später an einer Schlafmittelüberdosis starb. Seine Bücher wurden 1933 verboten und öffentlich verbrannt.
- Stanisława Engelówna
Erbaut 1899–1900. Entwurf: Rudolf Rieck.Im dritten Stock wohnte in den 1950er Jahren Stanisława Engelówna.
Stanisława Engelówna (1908 Warschau – 1958 Stettin), eigentlicher Name: Angel (am Anfang ihrer Karriere wählte sie eine polnische Version ihres Namens) – Theaterschauspielerin, polnischerFilmstar in den 1930er Jahren, eine außergewöhnliche Persönlichkeit des Stettiner Kulturlebens in den 1950er Jahren. Engelówna debütierte im Jahr 1935 mit der Rolle von Rosi in Die Lebensrente (Originaltitel: Dożywocie) von Aleksander Fredro im Warschauer Volkstheater. Der Direktor Ludwik Solski entdeckte als Erster ihr Talent. Sie spielte auch in solchen Theatervorstellungen, wie Friedrich der Große, der Geizige, Die Hochzeit, Warszawianka. Charakteristisch für ihre Rollen waren tragische Elemente, sie spielte schöne, gutherzige, ehrliche, aber innerlich zerrissene Frauen. Ruhm erlangte sie durch Filme wie Wrzos, Serce matki, O czym się nie mówi. Ihr Name war ein Publikumsmagnet. Sie schaffte es, in sechs Produktionen zu spielen. Ihre vielversprechende Karriere wurde jedoch durch den Kriegsausbruch unterbrochen. 1949 kam sie nach Stettin auf Einladung Stettiner Staatstheaters, sie spielte als Gast in einer Vorstellung von Noël Peirce Coward. Dann nahm sie das Angebot einer festen Anstellung an. Im damaligen Stettin ging man nicht ins Theater, sondern „zu Engelówna".
- Erwin Ackerknecht
Erbaut 1895–1896. Entwurf: Eugen Wechselmann, Wilhelm O. Zimmermann.Im dritten Stock wohnte in den Jahren 1905–1907 Erwin Ackerknecht Erwin Ackerknecht (1880 Baiersbronn – 1960 Ludwigsburg) – Professor, Philosoph, Pädagoge, Bibliothekar, langjähriger Direktor der 1905 gegründeten Stettiner Stadtbibliothek an der Grünen Schanze (Dworcowa-Str.).
Ackerknecht kümmerte sich um die Entwicklung der Volksbüchereien in Stettin und ganz Pommern. Er verwirklichte viele innovative Projekte, z. B. die Bibliothek für Sehbehinderte, die Musikbibliothek, die erste mobile Bibliothek in Pommern, die über einen gedruckten Katalog aller Sammlungen verfügte. Von ihm wurden auch Büchersammlungen für Schüler, Häftlinge, Krankenhauspatienten angelegt. Auf den Straßen erschienen Automaten für Presse- und Bücherverkauf . Ackerknecht war Gründer der Volkshochschule, der neuen Schule für Bibliothekare und Mitbegründer des inzwischen nicht mehr existierenden Kinos Urania. Er veranstaltete poetische Leseabende und Theateraufführungen, war selbst Bücherautor und Herausgeber einer Zeitschrift, wo er auch publizierte. 1934 wurde seine Arbeit durch die nationalsozialistische Herrschaft beendet. Anschließend widmete er sich noch der Vergrößerung der Sammlung des von ihm gegründeten Pommerschen Biografischen Archivs. Er verließ Stettin zusammen mit seiner Frau im März 1945. in March 1945.
Fotos: Szymon Maksymiuk