Dezember 1970 - Route
Drama und Erinnerung einer Rebellischen Stadt
Die Geschichte von Szczecin ist voll von bewegten Ereignissen. Eines der tragischsten fand im Dezember 1970 statt. Die damalige Staatsgewalt ging gewaltsam gegen protestierende Arbeiter vor. Es wurde geschossen, es kam zum Blutvergießen und es starben Menschen.
Im Dezember 1970 kamen Arbeiterproteste aus Anlass von Preiserhöhungen für Lebensmittel, hauptsächlich für Fleisch auf, die ihre dramatischste Form an der Küste – in Gdynia, Gdańsk, Elbląg und Szczecin angenommen haben.
Zum Gedenken an den 45. Jahrestag des Arbeiteraufstands in unserer Stadt wurde die Route „Dezember´70“ vorbereitet. Sie besteht aus 9 Tafeln, die an Stellen angebracht wurden, wo die dramatischen Ereignisse geschehen sind. Die Tafeln stellen Dokumentarfotos, Informationen in drei Sprachen sowie QR-Codes, die eingescannt werden können um eine Online-Beschreibung der betreffenden Stelle zu erhalten, dar.
Die Route wurde eingerichtet, um den Einwohnern und Besuchern, die nicht unbedingt geschichtlich interessiert sind, zu vergegenwärtigen, dass die augenscheinlich gewöhnlichen, unmerklichen Stettiner Gebäude, die nicht von der Patina der Jahrhunderte überzogen sind, wie auch Straßen und Plätze zur Bühne wichtiger Ereignisse geworden sind, welche Szczecin zum Teil der Geschichte Polens, Europas und der Welt werden lassen. Ohne die Kenntnis dieses schwierigen Zeitabschnitts der Stadtgeschichte ist es nicht möglich Szczecin oder das Phänomen der mehrere Millionen Menschen zählenden gesellschaftlichen Bewegung „Solidarność“, bzw. die politische Wende 1988/1989 zu verstehen, welche zum Fall des Kommunismus in Europa beigetragen haben.
Die Route erinnert – uns selbst und unsere Gäste, insbesondere jüngere Menschen, für die diese Tragödie, deren Akteure ihre Eltern und Großeltern waren, eine historische Abstraktion darstellen mag, daran, dass der Weg zur heutigen Freiheit seinen Preis hatte. Dass der Weg zum Runden Tisch, aber auch zum Fall der Berliner Mauer, durch die blutüberströmten Straßen von Szczecin und den Sozialraum der heute nicht mehr betriebenen Werft führte.
1. Haupttor der Stettiner Werft (ul. A. Antosiewicza 1)
Hier fing alles an. Am 17. Dezember 1970 um 10:30 Uhr startete vor dem Tor der Arbeitermarsch, der – von der Miliz angegriffen – bis zum Gebäude der Kommunistischen Partei gelang. Nach den Demonstrationen und Straßenkämpfen (in denen Todesopfer und Verletzte zu beklagen waren), sowie nach dem Brand des Parteisitzes wurde dieser Ort aufgrund der Aufrufe zum Besetzungsstreik vom 18. Dezember 1970 und vom 22. Januar 1971 zum Koordinierungszentrum der aufgebrachten Gesellschaft.
2. Dubois-Straße / Sławomir-Straße
Am 17. Dezember 1970 gegen 12 Uhr versuchte die quer durch die Dubois-Straße aufgestellte Bürgermiliz (MO), eine Arbeiterdemonstration, die sich von der Werft hin zum Sitz der Kommunistischen Partei begab, zu stoppen und aufzulösen. Infolge des brutalen Zusammenpralls mit den von Anwohnern unterstützten Demonstranten wurde die Blockade aufgehoben. Die Menge bemächtigte sich eines Milizwagens mit Tränengaswerfer und setzte ihn in Brand. Dieses Bild erscheint sehr oft in Erzählungen vom Stettiner Dezember ’70.
3. Wojewodschaftskomitee der Polnischen Vereinten Arbeiterpartei
Am 17. Dezember 1970 kamen die Stettiner Arbeiter, die mit Verhandlungen und Verständigung rechneten, aus ihren Fabriken direkt zum „Palast des Dicken“, wie das Symbol des damaligen Regimes in einem der Dezemberlieder genannt wurde. Sie stießen jedoch auf Gleichgültigkeit und gerieten in Zorn. Im Zuge einer Demonstration von mehr als zehntausend Teilnehmern wurde das Gebäude angezündet. Das vor dem Komitee stationierte Heer griff nicht ein.
4. Małopolska-Straße
1Am 17. Dezember 1970 kurz nach 15 Uhr, nach dem gescheiterten Versuch, die Demonstration vor dem Sitz der Kommunistischen Partei (am Pl. Żołnierza Polskiego 16) aufzulösen, griff ein Großteil der Demonstranten (etwa 10.000 Menschen) in einer Verfolgungsjagd mit der Bürgermiliz deren damaliges Hauptquartier für die Wojewodschaft an. Das Gebäude, in dem auch der Führungsstab der Wojewodschaft untergebracht war und wo sich ein Teil der Parteiführung geflüchtet hatte, wurde mit Steinen und Benzinflaschen beworfen und angezündet. Man versuchte, es zu stürmen; zwölf Personen kamen ums Leben, mehrere Hunderte wurden verletzt.
5. Präsidium des Städtischen Nationalrats (Pl. Armii Krajowej)
Am 17. Dezember 1970 abends wurde im Zuge von Straßendemonstrationen und Zusammenstößen auch der Sitz der Stadtverwaltung von den aufständischen Bürgern angegriffen. Ein Teil des Gebäudes wurde in Brand gesetzt, es kam zu Kämpfen und es fielen Schüsse, deren Abpraller einige Personen verletzten. Die aufgebrachte Menge wurde gegen 20 Uhr aufgelöst, doch die Nacht blieb unruhig. In der Stadt wurde der Ausnahmezustand verhängt.
6. Untersuchungsgefängnis / Staatsanwaltschaft (Kaszubska-Straße / Stoisław-Straße)
Am 17. Dezember 1970 gegen 16 Uhr lief ein Teil der Demonstranten vom Parteisitz und vom Quartier der Miliz hinüber zu den Gebäuden des Wojwodschafts-Untersuchungsgefängnisses, der Staatsanwaltschaft und der nahegelegenen Kaserne. Das Tor der Staatsanwaltschaft wurde angezündet. Der Angriff gegen das Untersuchungsgefängnis wurde mit Hilfe von Wasserwerfern und Tränengas abgewehrt. Die von Soldaten abgefeuerten Schüsse verletzten ein paar Demonstranten. Laut einigen Zeugenaussagen kam dabei ein 23-jähriger Arbeiter namens Zbigniew Semczyszyn ums Leben.
7. Zentralfriedhof
Ein Ort der Erinnerung an den Aufruhr von Dezember 1970, bestehend aus den 13 Grabstätten derjeniger, die zwischen dem 17. und 19. Dezember 1970 getötet und entgegen aller Würde bestattet wurden – nachts, in Eile, nicht selten ohne Teilnahme der Angehörigen. Als Ausdruck dieser Ereignisse, die von Zensur und Propaganda totgeschwiegen wurden, dienen hier zwei Orte: Am alten eisernen deutschen Kreuz neben dem Tor Nr. 2, in der Nähe von den Gräbern der Opfer, fanden unter dem Kriegsrecht und auch später Demonstrationen statt. Das Kreuz zum Dezember ’70, auch Märtyrerkreuz der polnischen Nation genannt, wurde 1999 errichtet.
8. Aufenthaltsraum der Stettiner A. Warski-Werft
Dieser Ort zahlreicher Versammlungen, Beratungen und Konferenzen wurde im Dezember 1970 und im Januar 1971 zum Sitz der Streikleitung. Im Herzen der Werft gelegen wurde dieser Raum auch zum Forum für noch nie zuvor dagewesene Debatten zwischen den aufständischen Arbeitern und den höchsten Führungskräften des Staats- und Parteiapparats. Das neunstündige Treffen vom 24.-25. Januar 1971 mit Edward Gierek, dem neuen Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei, bildete den Höhepunkt der Streikwelle in Stettin und öffnete ein neues Kapitel in der Nachkriegsgeschichte Polens.
9. Wyzwolenia-Allee
Der „Schwarze Marsch“ war Ausdruck des Protests gegen die Passivität des Regimes, das keine Eile zeigte, um die Verantwortlichen für die Dezembertragödie zu bestrafen. Am 1. Mai 1971 beschloss eine Gruppe von Werftarbeitern, sich an den offiziellen Maiumzug anzuschließen und so die fröhliche Atmosphäre der kommunistischen Feier zu trüben. Zum Höhepunkt des Marsches kam es, als der Bruder eines der Opfer vom 17. Dezember 1970 vor der Ehrentribüne Halt machte und die geballte Faust im schwarzen Handschuh hochhielt.